2021: Um was es gehen muss.

Die Bewältigung der Corona-Pandemie wird uns im kommenden Jahr weiterhin stark beschäftigen. Vom Erfolg der Massenimpfungen wird abhängen, ob überhaupt so etwas wie ein „normales Alltagsleben“ wieder zurückkehren kann. Einen Teil davon haben wir selbst in der Hand. Der andere Teil liegt in der Verantwortung der Regierung.

Der Bundesgesundheitsminister hat sehr früh angekündigt, dass man viel einander verzeihen müsse, wenn die Pandemie halbwegs überstanden ist. Natürlich wurden Fehler gemacht, seit COVID-19 nach Europa und Deutschland gekommen ist. Und es werden auch noch weitere Fehler gemacht, sei es zum Beispiel bei der Organisation des Impfprozesses (inklusive der Frage, wie viel Impfstoff zur Verfügung stehen wird!) oder bei den Strategien, welche die Verbreitung hemmen sollen.

Darüber, so viel ist sicher, werden viele Menschen diskutieren. Manche werden sich auch wirklich das Maul darüber zerreißen. Andere werden noch ein paar Schritte weitergehen und neue Verschwörungstheorien entwickeln oder zumindest verbreiten. Und ein Teil wird ganz nüchtern bewerten, dass wir im Ausnahmezustand gelebt haben und zumindest ein großer Teil ganz ordentlich gemacht worden sein wird.

Für mich wird diese Debatte verkürzt sein, wenn sie nur die Prozesse betrachtet, die ab dem Ausbruch der Pandemie passiert sind. Politik und Gesellschaft – und damit ganz sicher auch Zeitgeist beziehungsweise die Akteurinnen und Akteure, die diesen Zeitgeist geprägt haben! – tragen aber auch Verantwortung für das, was vor COVID-19 entschieden worden ist.

Viele Entscheidungen und Unterlassungen haben dabei nicht vorsätzlich das herbeigeführt, was in dieser Pandemie erkennbare Defizite sind. Manches hat man aber billigend in Kauf genommen oder zumindest fahrlässig nicht sehen wollen.

Beispiel eins: Die kommunale Selbstverwaltung ist vielfach durch Gesetze und Verordnungen verpflichtet, für Katastrophenfälle Vorkehrungen zu treffen. Klamme Kassen haben aber zum Beispiel dazu geführt, dass die Bevorratung bestimmter Medikamente nicht mehr funktioniert hat. Wurde das Ablaufdatum erreicht, wurde einfach nicht mehr nachbestellt. Kreise und Städte stehen auch in der Pflicht, für den Eintritt von Katastrophenfällen oder anderen Gefahrenlagen entsprechende Maßnahmenpläne vorzubereiten. In einigen Kommunen ist das letzte Update solcher Planungen schon lange her gewesen. Auch das hat an vielen Stellen mit der finanziellen Ausstattung der Kommunen zu tun.

Beispiel zwei: Das Instrument der Kurzarbeit hat an vielen Stellen gegriffen, um Arbeitslosigkeit und Insolvenzen zu verhindern. Im Internet ist nun die Klage mancher Selbständiger zu lesen, die sich darüber beschweren, dass ihre Angestellten Kurzarbeit beziehen dürften und sie vor dem Nichts stehen würden. Die Bundesregierung hat umfangreiche Hilfsprogramme entworfen, manche als Kreditprogramme, andere wiederum als direkte Zuschüsse ohne Rückzahlungsverpflichtung. Tatsächlich sind manche Selbständige hier durch das Raster gefallen. Richtig ist: Für die Kurzarbeit haben die Beschäftigten mit ihren Arbeitgebern in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt. Kurzarbeit ist also ein Instrument der Sozialversicherungen.

Viele Kulturschaffende, Gastronomen, klassische Freiberuflerinnen und Freiberufler oder auch Clickworker (diese Beispiele sind nicht abschließend!) passen nicht so richtig in unser System, in dem einerseits der Sozialstaat und andererseits Hilfsprogramme für eher größere Unternehmenseinheiten helfen sollten. Es ist in vielen Branchen gelungen, die Situation durch die Modifizierung des Insolvenzrechts und die Ausweitung der Möglichkeiten für Kurzarbeit quasi einzufrieren und Schäden zu verhindern. Wir wissen seit langem, dass wir zum Beispiel im Bereich der Altersvorsorge etwas für Menschen tun müssen, die keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit nachgehen, aber dennoch „abhängig“ von ihren Auftraggebern sind und kein Versorgungswerk ihres Berufsstands im Rücken haben. Auch im Falle einer Auftragsflaute ist das erste Netz, das sie auffängt, Arbeitslosengeld II. Wir benötigen hier dringend eine Reform des Sozialstaats. Diese Krise hat nur gezeigt, warum die Not hier so groß ist. Weil ein fiktives Armutsrisiko eben doch schnell wirklich werden kann.

Beispiel drei: Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens funktioniert möglicherweise in einem gesellschaftlichen Vakuum, in dem alle Menschen gleichermaßen gesund leben (und auch gesund leben können, weil es die finanziellen und gesellschaftlichen Umstände auch erlauben!). Der Rückzug der ärztlichen Versorgung aus der Fläche mag ökonomisch begründbar sein, im Ausnahmezustand ist er fatal. Natürlich muss nicht dauerhaft ein Notkrankenhaus mit 100 oder 1000 Intensivbetten vorgehalten werden. Wenn die Ideen der Bertelsmann-Stiftung Realität werden sollten, werden viele Regionen aber auch keine intensive Erstversorgung erleben können. Die Pandemie sollte ein Signal sein, dass diese Entwicklung gestoppt werden muss.

Beispiel vier: Mit der raschen Bestellung von ipads an vielen Stellen ist die Digitalisierung im Bereich des Bildungswesens immer noch nicht abgeschlossen. Die Pandemie zeigt, dass der Übergang in den hybriden oder digitalen Unterricht vor allem Kinder in ihrer Entwicklung gefährdet, die zuhause nicht auf eine volle Infrastruktur zurückgreifen können und deren Eltern beispielsweise nicht einfach so in das Homeoffice wechseln können. Manche Debatte zu diesem Thema hat mich auch vor diesem Hintergrund sehr gestört. Sie wurde oftmals von Menschen in einer Art und Weise geführt, die nicht einmal Empathie für die Lebenslage anderer Familien entwickeln konnten. Wenn wir über Digitalisierung reden, ist ein Tablet doch nur ein Werkzeug. Was soll damit erreicht werden? Und vor allem: Was tun wir konkret für Kinder, die auf ein gutes Bildungssystem und Daseinsvorsorge angewiesen sind, damit sie später ein selbstbestimmtes Leben führen können?

Es soll bei diesen vier Beispielen bleiben. Sie zeigen aber, dass wir manche falsche Entwicklung teilweise konsensual in unserer Gesellschaft vorangetrieben haben. Alle vier Beispiele stellen dar, welche Defizite festzustellen sind, wenn man dem Kostenfaktor zu viel Gewicht beimessen möchte. Die Vorsorge (vermeintlich) Selbständiger ist ja auch eine Kostenfrage, wenn man so möchte.

Neben der Pandemiebewältigung müssen wir nun dringend die Themen ins Auge fassen, die dringend in die neue Zeit geholt werden müssen. Wir dürfen beim Thema Digitalisierung nicht zaudern und zögern. Die Gesundheitsversorgung ist einer der wichtigsten Bausteine in das Vertrauen unseres Sozialstaats. Und wenn die Art der Arbeit sich verändert, müssen wir dafür sorgen, dass Menschen trotzdem sich auf ein Netz verlassen können, das sie wirklich auffängt. Dazu gehört auch, dass wir Selbständigkeit nicht mit Großunternehmertum gleichsetzen. Und für unsere Kommunen müssen und Bund und Land klotzen. Hier findet das Leben statt. Städte und Gemeinden müssen so ausgestattet sein, dass sie den Fortschritt begleiten und nicht den Zerfall moderieren.